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Hybride zwischen Zeichnung und Wahrnehmungsschrift

Es gibt eine Haltung. Es gibt das Material: eine bestimmte Sorte von Papier, ein bestimmtes Format, einen oder mehrere Stifte oder Pinsel und Farbe, die die Geste auf dem Papier sichtbar machen werden. Die Angaben gehören zur Erfassung. Die Verabredung für die Zeichnung war einmal, dass wir wiedererkennen, was gezeichnet worden ist, dass die Spur auf dem Papier wiederholt, was man selbst gesehen hat - oder haben könnte. Man betrachtet, wie unter den Bedingungen der Zeichnung das Wahrgenommene wiedergegeben worden ist und wie darin die Persönlichkeit des Künstlers und seine Zeit zum Ausdruck kommen. Der Reiz der Zeichnung ist, dass nicht alles vollständig unter Kontrolle ist, dass durch die Spontaneität des Skizzierens individuelle Regungen aufscheinen. Die Suche nach Ausdruck mischt sich mit dem Gestischen der zeichnenden Hand. In der skizzierten Linie wird Zeitlichkeit spürbar, etwas vom Prozess des Zeichnens selbst. Man sieht den Schwung, der sich in die Linie überträgt, ein Zögern ebenso wie den Nachdruck der Hand, die Form und Verlauf einer Linie bestimmen.
Katja Pudors Zeichnungen sind gestisch. Sie ahmen nichts nach - nichts, was wir anhand der Zeichnungen identifizieren könnten. Der Impuls geht vom Hören aus, nicht vom Sehen. In neueren Zeichnungen bezieht sie sich sowohl auf Musik als auch auf ihr wichtige Texte. Sie hört beides wieder und wieder, bevor sie zu zeichnen beginnt. Aus dem konzentrierten Zuhören übersetzt sie Wahrnehmung und Empfindung in zeichnerisches Handeln. Es dauert so lange, wie die Interpreten brauchen. Der Übersetzungsvorgang ist ein mentaler wie physischer Prozess, der von Material, Format und Haltung entscheidend geprägt wird. Katja Pudor macht genaue Angaben dazu, wie und unter welchen Umständen eine Zeichnung zustande gekommen ist. Sie zeigt es in Fotos und Videos. Zeichnen ist für sie eine konzeptionell forschende wie physische Angelegenheit. Beides ist Teil eines den ganzen Körper einbegreifenden Akts.

Die Beethoven-Zeichnungen entstanden synchron zum Hören der Klaviersonaten 1-8 und vier weiterer, die freier gewählt wurden. 1 Wie beim Pianisten, meist Igor Levit oder Daniel Barenboim 2, kamen dabei beide Hände zum Einsatz. Zu jeder Sonate gibt es beidhändig ausgeführte Arbeiten in einer festgelegten Reihenfolge. Zuerst tastet die Künstlerin sich auf dem Rücken liegend an das Stück heran. Dabei führt sie Stifte über DIN A4 oder DIN A3 Blätter, die links und rechts neben ihrem Körper liegen. Am Tisch sitzend arbeitet sie dann in einem Format von 80 x 150 cm und in einem dritten Angang stehend im Format von 240 x 150 cm. Vom ersten, blinden Skizzieren im Liegen wechselt Pudor die Haltung. Auch am Tisch schließt sie die Augen oder schaut über das Blatt hinweg. Das Papierformat vor ihr entspricht ungefähr der Größe eines Flügels. Die Situation der Zeichnerin spiegelt die Situation des Interpreten an seinem Instrument. Katja Pudor hört die Musik über Kopfhörer und führt mit beiden Händen die Stifte über das Papier. Die Schwingung des Klangs stößt die Bewegungen an wie beim Tanz, wie eine Tönzerin folgt sie beidem, der Musik und ihrem Körper. Sie kontrolliert, was sie tut, nicht mit dem Blick. Die Hand-Auge-Koordination ist unterbrochen, doch steuert die durch Wiederholung geschulte Hand ihre Gesten. Hören, Erinnern, Übersetzen - darum geht es - nicht um eine rein spontane Improvisation.
Katja Pudor hat früher schon mit Klang, Bewegung, Papier und Farbe gearbeitet. In ihren Performances, zu denen sie oft andere KünstlerInnen einlud, gab es einen sichtbaren Austausch. Während eine Videokamera die Interaktion der Beteiligten aufzeichnete, hielten die Papierbahnen die Bewegungsspuren der Performance fest. Für die Zeichnungen ändern sich die Parameter. Format und Lage des Blatts grenzen die Situation des künstlerischen Handelns stärker ein. Aufnehmen und Umsetzen sind konzentrierter.
Hören und Wiederhören öffnet einen anderen Weg zum Verstehen. Während wir im Wiederhören das Ganze eines Stücks genauer zu überblicken lernen, läuft die Vertiefung in einen Text in der Regel durch stilles Lesen. Nur in kultischen Zusammenhängen wird das wiederholte Sprechen und Hören Teil einer Aneignung. Schriftfixierte Kulturen schören die Angst, dass einem im Hören etwas entgeht. Das gilt besonders für Sachtexte. Dieser Textsorte gehören die Texte an, mit denen sich die Künstlerin zuhörend auseinandersetzt. Es fehlt also die visuelle Kontrolle, die in der Regel für kognitive Prozesse neutraler Informationsaufnahme unabdingbar scheint. Einen Text zu hören öffnet aber einen anderen als den vorgeschriebenen Sinn. Die Stimme kommt ins Spiel. Sie hat ein Timbre. Sie interpretiert den Text durch Rhythmus und Betonung. Obwohl es um Wörter, Sätze und Sinn geht, ist das nicht so anders als mit Musik. Ohne Noten und Buchstaben sind wir nicht sicher, ob wir alles mitbekommen. Hören ereignet sich. Es ist flüchtiger als Lesen. Es mischt sich stärker mit unseren Empfindungen. Deswegen schweifen wir im Hören auch eher ab. Und doch behalten wir Gehörtes und Wiedergehörtes auf andere Weise, physischer gewissermaßen.

Katja Pudor tritt aus der passiven Haltung des Hörens heraus und lässt es sichtbar werden. Anders als bei der Musik, wo die Impulse in frei schwingende Linien übergehen, verwandelt sie den gehörten Text in Schrift. Doch ist dieses Schreiben weit weg vom Diktat. Im Vordergrund steht die Bewegung des Schreibens und Überschreibens. Buchstäbliches bleibt in der Übersetzung erkennbar, ohne dass der Text als Text zum Vorschein käme. Schreiben und Zeichnen haben nicht nur in der Kalligrafie etwas miteinander zu tun.

Der Linie teilt sich ein Schwung mit, die sie mehr sein lässt, als für eine Aufzeichnung, für eine Wiedergabe nötig wäre. Die Künstlerin gibt ihm nach und lenkt ihn. Man kann erkennen, dass die horizontale Schreibrichtung in manchen Blättern auf eine vertikale stößt. Es bilden sich Felder der Überschreibung, die dunkle Formen auf dem Blatt bilden. Auffällig ist, dass der Rand des Papiers respektiert wird. Das Format bestimmt, was das Feld des Zeigens sein wird.
Es geht nicht allein um Ausdrucksgesten, sondern um die ganz konkreten Bedingungen der Umsetzung. Wenn Katja Pudor nach Gehör zeichnet, stellen sich Fragen: Wie ist der Klang, wie ist der Rhythmus? Was ereignet sich aus dem inneren Nachvollzug des Gehörten heraus? Wie fühlt sich die Bewegung über das Papier, der Druck und Gegendruck des Materials aus unterschiedlichen Positionen heraus an? Aber auch: Was wird zu sehen sein? Durch die Haltung, die sie beim Zeichnen einnimmt wird häufig verhindert, dass sie mit dem Blick kontrolliert, was sie zeichnet. Visuelle Kontrolle hat mit Distanz zu tun, den Überblick behalten zu wollen. Das Sehen ist als rationaler Sinn von der Moderne privilegiert worden. Man befindet sich der Welt gegenüber statt sich als Teil von ihr zu fühlen. Vom Sehen absehen verdankt sich dem Versuch, eine andere Nähe zu der Eigenständigkeit von Dingen und Verläufen zu gewinnen.
In den Blind Time Drawings (1973) ging es Robert Morris auch darum, den Prozess der Bewegung sichtbar zu machen, ohne ihn zu kontrollieren. Er schob Farbe mit beiden Händen blind über das Papier. Man kann den Verlauf in der intermittierenden Spur auf dem Blatt erkennen. Zu den Blind Time Drawings gehören jeweils die Selbstanweisungen, wie die Zeichnungen ausgeführt werden sollten. "With eyes closed, graphite on the hands and estimating a lapsed time of 3 minutes, both hands attempt to descend the page with identical touching motion in an effort to keep to an even vertical column of touches. Time estimation error:+8 seconds", steht in kleiner Schrift rechts unten auf dem Blatt Blind Time Drawing I (Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 89 x 117 cm).

So ähnlich der Ansatz zu sein scheint - Angabe über die Ausgangsbedingungen, geschlossene Augen, beidhändige Ausführung, üfen, wie genau die gestellte Aufgabe gelöst worden ist, wo es Abweichungen gibt, weil die Umsetzung des Konzepts blind erfolgte. Bei Pudor aber geht es um den Verzicht auf visuelle Kontrolle, darum, den vom Hören ausgelösten Übersetzungsprozess durch den Körper fließen zu lassen. Die Wiederholung im Hören führt zu einer Intensivierung. Die ersten im Liegen ausgeführten Blindzeichnungen zu den Sonaten beschreibt sie als "Einspüren". Die Transformation vom Wahrnehmen zum Wiedergeben wird von Arbeit zu Arbeit ein bewussterer Prozess. Die Schwelle zwischen Ausdrücken und Zeigen wird durch die Beschränkungen fühlbarer. Die Hände ertasten, was die Augen nicht sehen. So laufen die Linien in den Blindzeichnungen nicht über den Rand des Papiers. Vom Körper, seiner Haltung und der Reichweite der Gesten bestimmt sich, wie die begrenzte Fläche, der Ort des In-Erscheinung-Tretens sein wird. Denn es geht nicht bloß um Ausdruck, sondern auch immer um das Zeigenwollen.

Neben den beidhändigen Blindzeichnungen im Liegen und am Tisch stehen die großen Pinselzeichnungen im Format 230 x 150 cm. Mit langschaftigen Pinseln in beiden Händen bewegt sich die Künstlerin in der Zeichnung. Die kritzelige Dichte der beidhändigen Blindzeichnung weicht der großzügigeren Verteilung der Pinselstriche auf dem Papier. Auch wenn die Künstlerin ihr Tun beobachtet und den Übersetzungsprozess steuert, hat sie im Malprozess nicht das Ganze im Blick. Sie ist in der Arbeit, beobachtet wie Hände und Pinsel sich bewegen, kontrolliert die Farbsättigung, taucht die Pinsel ein und setzt wieder an. Bei gleicher Musik, gleicher Dauer ändert sich alles. Keine Idee, die Ergebnisse miteinander zu vergleichen.

Die Referenz auf das Gehörte, die die Verbindung herstellt, wird unter jeweils anderen Bedingungen hergestellt – und zugleich gelöscht. Im Schreiben und Überschreiben ist das noch deutlicher. Das Verstehenwollen im Hören und Wiederhören teilt sich nicht als lesbare Information mit, sondern in der Intensität der Verdichtung. Schreiben und Zeichnen teilen als Liniengefüge einen Raum. Die Schriftbilder sind in der Regel kleiner (29,7 x 21 cm oder 50 x 70 cm) als die zu den Sonaten. Man kann die Schreibrichtung und das Ausschwingen der Linie nach oben und unten erkennen. In About Resistance (Karski Bericht) 3 stehen durch Drehung des Blatts die horizontalen Schreiblinien in unterschiedlichen Winkeln zueinander, überkreuzen sich und bilden Muster. Hier und da sind Wörter lesbar, wenn man sich auf den handschriftlichen Duktus einlässt, dann wieder schichtet sich ein Gekritzel zu fransigen Verdichtungen. Durch die Art der Zwischenräume erkennt man Grapheme, die es als Schrift erscheinen lassen.

In "Über Zeichnung" wird Schreiben und Zeichnen theoretisch wie praktisch noch enger geführt. Aus dem Weiß heraus unter den Überschreibungen werden Worte wie "Form", vier Zeilen darunter "Fläche" und drei Zeilen darunter "Grundgegensatz zum Malerischen" lesbar. 4 Überschreibungen unterbrechen den Zusammenhang, sei es, dass das Weiter- oder das Wiederhören dazu geführt hat, denn der Aufzeichnungsverlauf verhält sich zwar synchron zum Hören, aber nicht linear. Sichtlich geht es nicht um die Übermittlung der Textinformation. Die Schichtungen geben dem Schreiben als Zeichnung Tiefe, nicht der Botschaft.

Bei Katja Pudor geht es immer um Annäherungen an Intensitäten, die bei der Umspannung von Wahrnehmen und Wiedergeben entstehen. So geben die Schrift-Zeichnungen vielmehr Auskunft über die Intensität der Wahrnehmung, die sich aus dem Raum des Hörens, Verstehens und Empfindens in die Schreibbewegung übersetzt, als über den Text. In der buchstabenlosen Schrift der O.T.s von 2019 wirkt sie auf ihren energetischen Kern reduziert. Während Hanne Darboven obsessiv Bogen auf Bogen mit unendlichen Reihen von Schreibbögen gefüllt hat, die sich gleichmäßig und klar vom Untergrund abheben, wirkt Pudors kritzelndes Zeichengeben hier eher seismisch. Ihr Weg von der Performance zur Zeichnung hält den physischen Akt des Zeichnens präsent in ihren Schreibbildern. Sie machen das Verhältnis zu Texten als Textualität sichtbar. Über den Raum des Hörens, Wahrnehmung und Körper verschiebt sich etwas gegenüber einem Denken von der Schrift her. Aus demselben Grund scheinen die Zeichnungen nach den Beethovenschen Sonaten auch aus dem physischen Prozess heraus entstandene Hybride zwischen Zeichnung und Wahrnehmungsschrift zu sein.

Ines Lindner (Kunsthistorikerin und Autorin), 2020

1 Beethoven, Klaviersonaten Nr. 32, 26, 25, 14. 2 Zum Vergleich zog die Künstlerin auch Interpretationen von Alfred Brendel, Mauricio Pollini und Glenn Gould heran 3 https://www.deutschlandfunkkultur.de/wie-ein-widerstandskaempfer-die-kzs- dokumentierte-die-reise.3682.de.html?dram:article_id=486837, abgerufen am 26.5.2021 4 Matthias Bleyl, "Zeichnung – Was ist das eigentlich? Oder: Warum die Linie nicht wesentlich ist", in: Kunstforum international, Bd. 196, 2009, S. 73-79.